Iwan S. Prochanow (1869-1935)

Ein Text von Dmitry Belous. Zuerst erschienen am 23.02.2012 unter slavicbaptists.com. Übersetzung und Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung.

Da dies ein relativ umfangreicher Text ist, habe ich mit Hilfe von KI auch eine Audio-Variante des Textes kreiert.

Anfänge

„Ich wurde am 17. April 1869 in der Stadt Wladikawkas im Nordkaukasus geboren“ – so beginnt Iwan Stepanowitsch Prochanow seine Autobiografie in dem Buch „In dem Kessel Russlands“. Dieses Buch wird auch die Hauptquelle für die biografische Darstellung von Prochanow sein; im Folgenden werden wir uns bei Verweisen auf dieses Werk auf die Seitenzahlen beschränken und den Titel nicht weiter benennen.

Über die wirtschaftliche Lage der Familie und ihre religiöse Zugehörigkeit wird Folgendes berichtet:

„Nach ihrer Ankunft in Wladikawkas begannen mein Vater und meine Mutter, mit großer Hingabe in der Obstzucht zu arbeiten. Infolgedessen wurde mein Vater nach und nach wohlhabend, kaufte vier Mühlen und erwarb Landbesitz. Er wurde Mitglied des Stadtrats … und besuchte eifrig die Versammlungen der … Molokaner.
Mitte 1876 hörte mein Vater die evangelische Botschaft, die ihm (und vermutlich auch meiner Mutter) von einem Bruder aus Tiflis überbracht wurde, der sie besuchte. Mein Vater glaubte und schloss sich der örtlichen Gemeinde der Brüder an. … Im Jahr 1894 wurde er … gemeinsam mit anderen Brüdern nach Goris verbannt. … Ich bewunderte seine Bescheidenheit, Sanftheit und Weisheit … seinen christlichen Charakter … und dankte Gott für einen solchen Vater.“ (S. 158, 159)



Über seinen eigenen Anschluss an dieselbe Gemeinde schreibt Prochanow:

„Meine Bekehrung geschah im November 1886, und am 17. Januar 1887 schloss ich mich der örtlichen Versammlung an … ich begann, mich an der geistlichen Arbeit zu beteiligen … und leitete sogar Bibelstunden für Kinder. Meine erste Predigt hatte das Thema: ‚Selig sind, die da hungert …‘ Matthäus 5,6.“ (S. 51, 54)

Da Prochanows Buch „In Kessel Russlands“ (erschien 1933 zuerst auf Englisch unter dem Titel „In the cauldron of russia“, erst anschließend erschien die russische Version „В котле России“ ) für internationale Leser bestimmt ist und es inhaltliche Unklarheiten gibt, wollen wir schriftliche Zeugnisse von Persönlichkeiten der Evangeliumschristen-Baptisten (EChB) anführen, die Prochanow persönlich und gut kannten:
„Er selbst kam zum Glauben und ließ sich in der Baptistengemeinde von Wladikawkas taufen“1 … ();
„… kam zum Glauben … in der Gemeinde von Wladikawkas, hatte baptistische Eltern, und sein Vater erlitt alle Schrecken der Verbannung nach Transkaukasien wegen seiner Standhaftigkeit im Bekenntnis zu baptistischen Grundsätzen.“ 2

So wuchs Prochanow, obwohl er in eine Molokanerfamilie hineingeboren wurde, ab seinem siebten Lebensjahr in einer baptistisch-christlichen Familie auf. Wie tief die geistliche Reife seiner Mutter, Agrafena Saweljewna, war, erkennen wir an einem erhalten gebliebenen Brief von ihr an ihre Nachkommen:
„Hängt euer Herz nicht an falsche Kostbarkeiten. Sie ziehen schnell an – und verschwinden ebenso schnell … Man muss ein Sohn des himmlischen Vaters sein, sein Tempel sein. Denkt darüber nach, meine Lieben, wie notwendig die Wiedergeburt ist …“3
Diese Gedanken und Mahnungen entspringen nicht einer molokanischen, sondern einer evangelisch-baptistischen Überzeugung.

Der Autor dieses Artikels über Prochanow hatte nicht nur den Brief seiner Mutter in Händen, sondern hörte auch Zeugnisse von Verwandten darüber, welch hingebungsvolle Beterin sie gewesen sei:

„Je näher sie dem Ende ihres irdischen Laufes kam, desto stärker entbrannte in ihr der Geist des Gebets. Am Vorabend ihres Heimgangs … bewegten sich ihre Lippen unaufhörlich. Verwandte und Nahestehende, die sich an ihrem Lager niederbeugten, hörten die Namen ihrer Kinder.“


Sie hatte drei Söhne: Iwan, Alexander und Wassili. Alle drei, so schreibt W. Popow, waren gläubig und „von außergewöhnlicher geistlicher Begabung“:


Iwan – der Organisator der russischen evangelischen Bewegung,
Alexander – Arzt und Herausgeber einer geistlichen Zeitschrift,
Wassili – Missionar.

Dreimal stand das Leben von Iwan Prochanow an der Schwelle des Todes: im Alter von nur zehn Tagen – aufgrund einer Krankheit; in seiner frühen Jugend – infolge eines Selbstmordversuchs während einer „schrecklichen Depression“, ausgelöst durch seine Beschäftigung mit einer Philosophie des Pessimismus; und schließlich im Jahr 1898 – als er im Rahmen eines sanitären Hilfseinsatzes für kranke Duchoborzen4 auf der Insel Zypern während einer Ruhr-Epidemie tätig war (S. 32, 49, 110).
Nur den unablässigen Gebeten seiner Eltern verdankte er es, dass er am Leben blieb. Daran erinnerte sich der Sohn stets und zog die richtigen Schlüsse – er widmete sein Leben dem Dienst an Christus und seinen Mitmenschen.

Fleissiger Student und Kosmopolit

Dank des gehobenen Wohlstands der Familie (bis zur Verbannung führte der Vater den Haushalt vorbildlich, danach übernahm dies Wassili) konnte Prochanow nach dem Abschluss der Realschule (die nahezu dem Niveau eines Gymnasiums entsprach) im Jahr 1888 sein Studium am Technologischen Institut in Sankt Petersburg aufnehmen und es 1893 mit einem Diplom als Maschinenbauingenieur abschließen.

Da Prochanow während seines gesamten Studiums aktiv am geistlichen Leben der Gläubigen in Sankt Petersburg teilnahm – insbesondere durch die Gründung der ersten geistlichen Zeitschrift in der Geschichte der Evangeliumschristen-Baptisten, «Беседа» – Beseda („Das Gespräch“), sowie durch seine Tätigkeit zur Sammlung und Veröffentlichung von Informationen über die Verfolgung sogenannter „Sektierer“ –, wurde er 1894 von der Geheimpolizei überwacht (im selben Jahr wurde auch sein Vater nach Goris verbannt).

„… Die Brüder drängten sehr darauf, dass ich ins Ausland ginge. Sie rieten mir, dort Informationen über die Verfolgungen in Russland zu veröffentlichen, um die geistliche und finanzielle Unterstützung der Brüder aufrechtzuerhalten und Literatur aus dem Ausland zu senden.“ (S. 93)


Die Brüder (damit ist der Redaktionsrat der Beseda gemeint ) beschlossen, die Zeitschrift nach Stockholm (Schweden) zu verlegen. Zu diesem Zweck reiste die Mitarbeiterin der Beseda, E. W. Kirchner (Mitglied der Baptistengemeinde von Saratow), dorthin. Später wurde die Herausgabe der Zeitschrift nach London verlegt.

Wie in der Biografie von W. G. Pawlow erwähnt, leitete dieser während seines Exils in Tulcea (Rumänien) als Ältester eine deutsch-russische Baptistengemeinde. Von dort aus übermittelte er Berichte über verfolgte Gläubige aus Russland an die Zeitschrift Beseda in London weiter.

Im Januar 1895 reiste Prochanow mit Hilfe der Brüder Stremouchow (Ältester der Pashkowianer5 in Helsingfors) und des Barons P. N. Nikolai illegal (ohne Reisepass) über Finnland nach Stockholm aus. In Finnland, wo er auf die Freigabe der Schifffahrt im Hafen von Åbo wartete, lebte er mehrere Wochen im gastfreundlichen Haus von P. N. Nikolai. (Später war dieser einer der Dozenten bei den von Prochanow in Sankt Petersburg organisierten Bibelkursen.) – Aufgrund der Vorsicht als Verschwörung zu gelten, durfte er das Haus während dieser Zeit nicht verlassen.

Der Liederdichter wird geboren

Diese Zeit nutzte Prochanow intensiv für seine poetische Arbeit: Früher verfasste Gedichte wurden überarbeitet und neue Dichtungen geschrieben – darunter das Lied „Ins himmlische Land…“. Diese Texte wurden später zu geistlichen Liedern, die 1902 in seiner ersten Sammlung unter dem Titel Gusli („Psalter“) veröffentlicht wurden.

Es gibt berechtigten Grund zu der Annahme, dass mit dieser Phase eine besonders schöpferische Periode in Prochanows Leben als Liederdichter begann, die fast sein gesamtes weiteres Leben andauerte. (Seine dichterische Begabung zeigte sich bereits in seiner frühen Jugend – besonders nach seiner Bekehrung.)

Sein poetisches Schaffen war von solch außergewöhnlicher Fruchtbarkeit, dass bis zum Ende der 1920er Jahre die Zahl seiner veröffentlichten Liedtexte (ohne die Gedichte für Deklamationen) bei 1.037 lag: davon waren 624 Originaldichtungen und 413 Übersetzungen aus verschiedenen Sprachen.

Prochanow lud eine ganze Gruppe gläubiger Komponisten ein, um bestehende Melodien ausfindig zu machen und neue zu komponieren. Einige der Komponisten seien hier genannt: I. P. Perk, Sohn des Chorleiters der Baptistenkirche in Samara; A. I. Kesche, Sohn des Chorleiters der deutschen Baptistengemeinde in Sankt Petersburg; K. G. Inkis, ein lettischer Baptist; sowie N. A. Kasakow und andere.

Sobald die Frühjahrs-Schifffahrt eröffnet war, reiste Prochanow mit dem Dampfer nach Stockholm, von dort weiter nach Hamburg (Deutschland) und über Paris – wo sein Bruder Alexander ein medizinisches Praktikum absolvierte – schließlich nach London. Auch Alexander traf später dort ein.

Seinen Auslandsaufenthalt wollte Prochanow bestmöglich für eine theologische Ausbildung nutzen. Ursprünglich beabsichtigte er, an der Universität London zu studieren, doch auf Anraten von Dr. Baedeker6 und dem Quäker Mr. Brooks7 entschloss er sich, zunächst ein Jahr am baptistischen Seminar in Bristol zu verbringen.

Anschließend zog Prochanow mit Unterstützung der erwähnten Brüder nach Berlin und hörte dort während eines Semesters (fast ein halbes Jahr) Vorlesungen an der Theologischen Fakultät der Berliner Universität. Er wohnte während dieser Zeit in der Baptistischen Mission für Kamerun. Schließlich verbrachte er ein weiteres halbes Jahr an der Protestantischen Theologischen Fakultät in Paris.

„Anfangs fiel es mir schwer, den Sinn der Vorlesungen zu verstehen, doch ich lernte die Sprachen mit großer Intensität, und das half mir sehr beim Studium der Theologie.“

„So konnte ich am Ende ganz unbeschwert sprechen und verstehen, wenn die Vorlesungen auf Deutsch oder Französisch gehalten wurden … Ein Professor der … Geschichte veröffentlichte … etwas über die Verfolgung der Stundisten … Ich führte somit eine umfangreiche Korrespondenz und schickte oft finanzielle Hilfe für die Verfolgten … in Russland … Ich spürte, dass ich nicht länger im Ausland bleiben durfte und dass die Zeit gekommen war, nach Russland zurückzukehren und dort meine Arbeit wieder aufzunehmen.“ (S. 101, 102)

Der Fortschritt beim Erlernen von Fremdsprachen trug wesentlich dazu bei, dass Prochanow geistliche Lieder in englischer, französischer und deutscher Sprache tiefer erfassen und sie ins Russische übertragen konnte – eine Arbeit, der er sich in den folgenden Jahren intensiv widmete.

Gott erhörte sein Gebet und sein Verlangen, in seine Heimat zurückzukehren, um dort geistlich zu wirken. Über die Insel Zypern (Griechenland) – wo er trotz einer Erkrankung ehrenvoll den Auftrag der Brüder, der Quäker, erfüllte, indem er kranke Duchoborzen bis zu ihrer Abreise nach Kanada pflegte – kehrte er schließlich nach Hause zurück, nach Wladikawkas.

Rückkehr nach Russland

Zu Hause stand Prochanow eine Zeit lang unter polizeilicher Aufsicht, erhielt jedoch später die Erlaubnis zur freien Bewegung im Land. Dies nutzte er und nahm eine Stelle im Staatsdienst in Riga an. Doch wurde er aus dem Polytechnischen Institut Riga aus dem Lehramt entlassen – als führender Vertreter des Stundismus.

Zuvor, nach seiner Rückkehr aus dem Ausland, hatte er seinen verbannten Vater und die Brüder in Gerusy besucht, ihnen Hilfe aus dem Ausland überbracht und sie mit neuer Hoffnung ermutigt.

Im Jahr 1901 heiratete Prochanow Anna Kasakowa, ein Mitglied der Baptistengemeinde in Tiflis – eine aufrichtige Christin, begabte Musikerin und Kennerin europäischer Sprachen.

Nach der Eheschließung erhielt Prochanow eine Anstellung als Ingenieur bei der Firma Westinghouse und zog mit seiner Frau nach Sankt Petersburg. Im Jahr 1902 gelang es ihm, in der staatlichen Druckerei 20.000 Exemplare seines ersten geistlichen Liederbuchs Гусли – dt. Gusli 8 drucken zu lassen.

Nur die rasche Verbreitung an verschiedenen Orten und in zahlreichen Gemeinden bewahrte die Gusli vor der Beschlagnahmung – sämtliche Exemplare gelangten in den Besitz der evangelisch-baptistischen Gemeinden Russlands und verschafften dem Autor große Bekanntheit. (S. 119, 120)

In den Jahren 1904–1905 veröffentlichte Prochanow eine Sammlung christlicher Gedichte unter dem Titel Струны сердца – Saiten des Herzens.

Im Jahr 1907 begegnen wir Prochanow unter den führenden Brüdern aus den Reihen der Pashkowianer, Baptisten, Molokaner und Presbyterianer, die sich in der Gemeinde von Br. I. W. Kargel in Sankt Petersburg zu einem Vereinigten Kongress versammelt hatten. Ziel dieses Treffens war es, die neu entstandenen Freiräume für den Dienst der sogenannten „Sektengemeinden“ zu nutzen und gemeinsam für deren Ausweitung einzutreten.

Prochanov sitzt in der Mitte, rechts von ihm Iwan Kargel.

Prochanow erhielt den ehrenvollen Auftrag, gemeinsam mit den Brüdern W. I. Dolgopolow und A. D. Bogdanow, die vom Kongress verfasste Petition dem Innenminister zu überreichen.

Auch in den darauffolgenden Jahren – von 1907 bis 1911 – arbeitete Prochanow unermüdlich daran, verfolgte sogenannte „Sektierer“ rechtlich zu verteidigen, die an vielen Orten trotz des Zarenerlasses vom 17. Oktober 19059 und des Ukas vom 17. Oktober 1906 weiterhin vom Klerus und von Beamten unterdrückt wurden.

Die von ihm in diesen Jahren veröffentlichte Broschüre Закон и вера (Gesetz und Glaube) verlieh Prochanow Autorität als einer der kompetentesten Kenner auf diesem Gebiet.

Führer der Evangeliumschristen-Baptisten

Sein wachsender Einfluss unter den Gläubigen der Evangeliumschristen-Baptisten (seit 1905 wurden die Gemeinden des Baptistenbundes laut Kongressbeschluss in Rostow am Don offiziell unter der Bezeichnung „Evangeliumschristen-Baptisten“ geführt) wurde zusätzlich durch seine periodischen Veröffentlichungen gestärkt:

Ab Januar 1906 begann er, die Zeitschrift Христианин – (Christjanin -„Der Christ“) herauszugeben, und ab 1910 auch die christliche Zeitung Утренняя звезда (Utrennjaja Swesda „Morgenstern“).

Cover der Erstauflage der Zeitschrift „Chrsitianin“.

Darin erschienen auch regelmäßig Berichte über die Verletzung der Rechte der Gläubigen der Evangeliumschristen-Baptisten, was zur Ausweitung der Freiheit ihrer gottesdienstlichen Versammlungen beitrug.

Die Jahre 1910 bis 1913 bildeten für Prochanow den Höhepunkt seines Liedschaffens und der Veröffentlichung neuer Liedsammlungen: Die neue Harfe, Neue Melodien, Lieder des Christen, Tympana, Zimbeln, Morgendämmerung des Lebens, Lieder der ersten Christen.10

Mit diesen Sammlungen erhielten die Gläubigen der Gemeinden der Evangeliumschristen-Baptisten Lieder im rein evangeliumsgemäßen Geist – buchstäblich für alle Anlässe des kirchlichen und außerkirchlichen Lebens.

Allein die von Prochanow selbst verfassten und übersetzten Lieder – ohne die von anderen Autoren gesammelten – zählten bis zum Ende der 1920er Jahre über eintausend Stück. Um sie alle aufzulisten, ihren Inhalt und ihre Form zu analysieren und die Umstände ihrer Entstehung zu beschreiben, wären mehrere hundert Seiten nötig.

In seinen Erinnerungen schrieb Prochanow über das Liedschaffen dieser Jahre:

„Die Musik muss denselben Charakter tragen wie das Evangelium, das Freude bringt … Als mir dieses Verständnis … von Lied und Musik aufging, begann ich zu handeln.“

„Alle meine Hymnen drückten den sieghaften Glauben des Evangeliums aus … Ich erläuterte meine Gedanken Bruder Karlis G. Inkis11 und anderen russischen Komponisten … um sie zu einem neuen Weg in der geistlichen Musik zu inspirieren … Die Zahl der Hymnen wuchs nach und nach … Es wurden … nicht weniger als zehn Liederbücher veröffentlicht …“ (S. 143)

Weiterentwicklung der musikalischen Arbeit

Die Brüder – Komponisten (Ihr Andenken sei gesegnet!)

Möge ihre Namen heilig bewahrt bleiben in den musikalischen Ausgaben! Unter göttlicher Inspiration setzten sie den Gedanken Prochanows auf wunderbare Weise um.

Welch gewaltige Arbeit wurde von Prochanow, den Komponisten und ihren Helfern geleistet, damit im Jahr 1927 zehntausend Exemplare dieses dreibändigen Десятисборника (Zehnfaches Liederbuch) – einer Notenausgabe – in hochwertiger Bindung erscheinen konnten! (Ein herzliches Dankeschön für die materielle Unterstützung an die gläubigen Geschwister im Ausland!)

Ich12 sah in den 1940er Jahren dieses dreibändige Werk im Haus eines Bruders, der in den 1920er Jahren Chorleiter gewesen war, und ich erinnere mich, wie sorgfältig er diese drei Bände geistlicher evangelischer Lieder aufbewahrte.

Unbestreitbar ist: Der höchste Heroismus des Glaubens zeigt sich darin, sein Leben als Märtyrer für Christus hinzugeben.
Doch es gibt auch einen Heroismus des Glaubens im selbstlosen Dienst für die Gemeinde Christi, für die Bruderschaft – wie Christus sagte: „Was ihr einem meiner geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ (Matthäus 25:40)

Ich beziehe diese Worte auf die Verfasser des Zehnsammlers – und in erster Linie auf Iwan Stepanowitsch Prochanow.

Nennen wir zumindest einige seiner Hymnen, die aus unseren gottesdienstlichen Versammlungen nicht mehr wegzudenken sind:

Übersetzungen:
„Höret die Botschaft von Liebe …“,
„Ich liebe, Herr, dein Haus“,
„Geh nicht vorüber, o Heiland“,
„Großer Gott“

Originaldichtungen:
O lasst uns nach Golgatha ziehen“,
„O vollkommenes Bild“,
„Für den Glauben des Evangeliums“,
„Wie ein Pfad durch den Wald“

Große Pläne

Doch dieser große und gesegnete Beitrag Prochanows zum umfangreichen Liedschaffen des Evangeliumschristen-Baptisten-Bundes in Russland war keineswegs der einzige Ausdruck seines unermüdlichen Lebenswerks.

Er hatte auch andere Visionen und Programme, denen er viel Zeit, Kraft und Gesundheit widmete. Diese wollen wir im Folgenden kurz beschreiben.

Neunzehn Jahre (von 1909 bis 1928) intensiver Tätigkeit widmete Prochanow dem Aufbau, der Leitung und der Ausweitung des Bundes der Gemeinden der Evangeliumschristen (ohne das Wort „Baptisten“). In all diesen Jahren war er ununterbrochen Vorsitzender dieses Bundes – ebenso wie der Vorsitzende aller seiner Kongresse, von denen insgesamt zehn abgehalten wurden.

Einige Jahre nach der Revolution widmete Prochanow dem Versuch seine Kraft, einzelne Zweige der nach der Revolution von 1917 gespaltenen Orthodoxie im evangelischen Geist zu reformieren. Im Jahr 1922 verbreitete er unter orthodoxen Christen 100.000 Exemplare seines Artikels «Евангельский клич» (Der evangelische Ruf).

Auch nach 1917 ließ ihn die Idee nicht los, „unser Ideal des Lebens nicht in alten Städten und Dörfern zu verwirklichen … sondern in einer neuen Form … Eine Stadt, in der die neuen Prinzipien umgesetzt werden sollen, muss Stadt der Sonne oder Stadt des Evangeliums13 genannt werden.“ (S. 225)

Prochanow und seine Begleiter nach der Pflanzung der Eichen für die gründung der Stadt Evangelsk

Im Jahr 1927 unternahm Prochanow gemeinsam mit einer Gruppe von Brüdern aus den Evangeliumschristen eine Reise nach Sibirien. An der Mündung zweier Flüsse – der Bija und der Katun – pflanzten sie „mehrere Eichenbäume, um den Ort der zukünftigen Stadt zu markieren“ (ebd.).

Die Idee der Umwandlung des V.S.E.Ch. (Allrussischer Bund der Evangeliumschristen) in einen Weltbund der Evangeliumschristen entstand und wurde auf dem 10. Kongress im Jahr 1926 beraten
Da jedoch in der brüderlichen Literatur – insbesondere in den periodischen Veröffentlichungen der 1920er Jahre – über die oben genannten Ideen und Initiativen ganz unterschiedliche, ja sogar gegensätzliche Einschätzungen und Beurteilungen zu lesen sind, wollen wir sie an dieser Stelle nicht zitieren.

Stattdessen hoffen wir, die einzig wahre Bewertung vom Haupt der Gemeinde zu empfangen – vor dessen Richterstuhl wir alle offenbar werden müssen (2. Korinther 5:10).

Neben seinem dichterischen Erbe hinterließ Prochanow eine große Anzahl weiterer schriftlicher Arbeiten: Broschüren, Artikel und Bücher – darunter Das Glaubensbekenntnis der Evangeliumschristen, Eine kurze Lehre über die Predigt (Homiletik) sowie die Biographie Im Kessel Russlands.

Im Jahr 1928 reiste Prochanow ins Ausland:

„Ich hatte nicht vor, länger als ein Jahr fortzubleiben … Am 8. April 1929 wurde in Russland ein Gesetz veröffentlicht, das … den Beginn grausamer Christenverfolgungen markierte. Bald erhielt ich Briefe, die mich über das Leid der Brüder informierten und um Hilfe baten … Da erkannte ich, dass es Gottes Wille war, im Ausland zu bleiben, um zu versuchen, eine dauerhafte Unterstützung für die Leidenden während dieser Verfolgungen zu organisieren.“ (S. 246)

Haft, Leid und Sterben

Es war Prochanow bestimmt, um Christi willen zweimal unter der sowjetischen Herrschaft im Gefängnis zu sitzen.

Das erste Mal geschah dies im Mai 1921, als er zusammen mit 47 Teilnehmern des 6. Gesamtrussischen Kongresses der christlichen Jugend (ohne Beteiligung der Baptisten) von Mitarbeitern der Ч.К .(Tscheka – rus. Staatssicherheit) verhaftet wurde.

Nach drei Wochen Haft wurden 35 Personen freigelassen (dies geschah in der Stadt Twer), während 12 ältere Brüder, darunter auch Prochanow, weitere dreieinhalb Monate in Haft gehalten wurden.

Das zweite Mal wurde Prochanow im Jahr 1923 gemeinsam mit Bruder W. A. Dubrowski verhaftet; sie wurden mehrere Wochen lang in Moskau im Butyrka-Gefängnis festgehalten – dem zentralen Gefängnis der Tscheka.

Die drei Baptistischen Prediger und Missionare: Ratuschni, Pawlow und Lisizyn.

Auch persönliche tragische Verluste blieben Prochanow – wie auch W. G. Pawlow14 während seiner zweiten Verbannung – nicht erspart:
Im Jahr 1919 starb seine Frau während einer Epidemie in Wladikawkas (ihre Ehe hatte insgesamt nur 18 Jahre gedauert),
und im Jahr 1926, als Prochanow sich im Ausland aufhielt, kam sein jüngerer Sohn in der elterlichen Wohnung durch einen unbeabsichtigten Schuss ums Leben.

All das – und vieles mehr, was uns verborgen geblieben ist – wirkte sich in den 1930er Jahren auf Prochanows Gesundheit aus. Über seinen Gesundheitszustand und seine letzten Lebensstunden zitieren wir im Folgenden einen gekürzten Auszug aus dem Artikel „I. S. Prochanow“ (Zum hundertsten Geburtstag), erschienen im Bratski Westnik im Jahr 1969:

„Lungenentzündung, Zuckerkrankheit und eine Blutvergiftung führten das tatkräftige Leben rasch zu seinem Ende … Vor seinem Heimgang wandte er sich mit einem Abschiedsbrief an alle Kinder Gottes.“

n diesem Brief schrieb er, dass nun auch für ihn die Stunde gekommen sei, in die Ewigkeit hinüberzugehen. Doch solange die Sonne seines irdischen Lebens noch nicht ganz untergegangen sei, bitte er um Vergebung bei allen, die er in irgendeiner Weise verletzt oder betrübt habe. Von seiner Seite aus vergebe er jedem. Er sagte:

„… überhaupt ist die Zeit gekommen, eine evangelische Amnestie auszurufen – für alle Arbeiter des Evangeliums und für alle anderen – in allem, was nicht gut war …“

In der Ferne erklangen leise geistliche Lieder der versammelten Gläubigen (der Evangeliumschristen Gemeinde in Berlin – Anm. L. K.) … Noch ein letzter Atemzug – und das Leben erlosch …

Es war ein Sonntag, der 6. Oktober 1935.
Herr, es war Dein Wille, uns diesen lieben Bruder zu geben –
und Du hast ihn zu Dir genommen. Dein Name sei gepriesen. (Hiob 1,21)15


Quellen, Links und Erklärungen:

  1. J. I. Schidkow, Auf den Wegen der Einheit, Bratski Westnik Nr. 5–6, Jahr 1957 – «На путях единства», «Братский вестник» № 5-6 за 1957 г. ↩︎
  2. N. W. Odinzow, Der Zustand des Werkes Gottes in Russland, Zeitschrift Der Baptist, Nr. 1, Jahr 1927 – Н. В. Одинцов «Состояние дела Божия в России», ж. «Баптист» № 1 за 1927 г. ↩︎
  3. W. Popow, Leben und Wirken von I. S. Prochanow, Zeitschrift Sejatel Istiny, Nr. 7–8, Jahr 1993 – «Жизнь и деятельность И. С. Проханова», ж. «Сеятель Истины» № 7–8 за 1993 г. ↩︎
  4. Die Duchoborzen (russisch für „Geisteskämpfer“) sind eine von der russisch-orthodoxen Kirche abweichende christliche Sekte ↩︎
  5. Paschkow war einer der ersten Evangeliumschristen in Russland und geprägt durch die Arbeit von Lord Radstock. Die Gläubigen wurden dann als Pasckowianer verunglimpft. ↩︎
  6. Gemeint ist der deutsche Christ Friedrich Wilhelm Baedecker. ↩︎
  7. Gemeint ist Edmund Wright Brooks. ↩︎
  8. Gemeint ist eine osteuropäische Art der Harfe. ↩︎
  9. Das sogenannte Oktobermanifest gewährte zahlreiche Bürgerrechte – Während die große Demokratische Wende ausblieb, wurde dadurch die Situation vieler Evangelikaler in Russland deutlich erleichtert – leider nur für wenige Jahre bis etwa 1928. ↩︎
  10. Originaltitel der Liederbücher – viele sind bis heute in aktivem Gebrauch russischsprachiger Christen:«Новая арфа», «Новые напевы», «Песни христианина», «Тимпаны», «Кимвалы», «Заря жизни», «Песни первых христиан» ↩︎
  11. – lettischer Baptist, Komponist der meisten Melodien zu Prochanows Texten, Absolvent des Sankt Petersburger Konservatoriums, gestorben 1918 – Anm. L. K – Mehr Informationen zu Inkis finden sich bisher nur russischsprachig unter dieser Seite. ↩︎
  12. Mit „Ich“ ist in diesem und dem folgenden Absatz der ursprüngliche Autor des Artikels L Kowalenko, die Quellenangabe ist: Quelle: „Wolke der Zeugen Christi“, L. Kowalenko – «Облако свидетелей Христовых», Л. Коваленко. ↩︎
  13. Nur die direkte Unterbindung durch Stalin verhinderte die Umsetzung des Projekts „Evangelsk↩︎
  14. Gemeint ist W.G. Pawlow, ein Pionier-Missionar der russischen Baptisten, bisher finde ich zu ihm Informationen nur Russischsprachig. ↩︎
  15. Der Originalartikel benennt noch diese Quellen: И. С. Проханов «В котле России», 1992 г.; статья «И. С. Проханов», ж. «Братский вестник» за 1969 г.; В. Попов ст. «Жизнь и деятельность И. С. Проханова», ж. «Сеятель Истины» № 7-8 за 1993 г. ↩︎

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